Albumcover "Normal"
02.12.2023


Kiri Rakete: „Normal“



Anders ist das neue Normal



Gefühlt liegt die Veröffentlichung des letzten Albums von Kiri Rakete noch gar nicht so lange zurück. Der Blick ins Archiv verrät aber, dass doch schon wieder zwei Jahre vergangen sind, seit das wunderbar unbekümmerte „Wohnzimmerabenteuer“ der Wiener Musikerin erschienen ist. Es wird also wieder Zeit! Denn auch Künstler*innen in der Gattung Kindermusik können sich inzwischen nicht komplett von dem Erwartungsdruck freimachen, permanent neuen „Content“ liefern zu müssen, um in der Fülle an Angeboten sichtbar zu bleiben. Ursprünglich hätte „Normal“ allerdings auch nur eine EP werden sollen. Über den vergangenen Sommer wurde Kiri Rakete dann aber offenbar von der Muse geküsst und beglückt ihre wachsende Fangemeinde nun doch mit einem gut gefüllten Album, das auf allen Ebenen einen deutlichen Entwicklungsschritt der talentierten und so herrlich unangepassten Kindermusikerin markiert.

Für „Normal“ hat Kiri Rakete ihr orrfsches Instrumentarium öfter beiseitegelegt und das klangliche Spektrum ihrer Lieder deutlich erweitert. Gleich im Opener „Wie ich will“ kommt eine vollständige Bandbesetzung aus Schlagzeug, Bass, Gitarre und Klavier zum Einsatz. Der Liedtext ist dem Kinderbuch „Heut, da bin ich eine Maus“ von Franziska Höllenbacher entnommen, das von Kiri Rakete musikalisch interpretiert wurde. Während in den Strophen etliche tierische Charakterzüge durchdekliniert werden, mündet der Refrain des Songs in einer der meistbesungenen Botschaften im Kinderlied. (»Ich kann sein, wie ich will, einmal laut einmal still / einmal groß einmal klein, ich kann anders sein.«) Im Vergleich dazu erweist sich „Hundertwasser“ als deutlich innovativer, formuliert der Song doch einen gänzlich neuen Anspruch an Kindermusik. Mir zumindest fällt auf Anhieb kein Kinderlied ein, das sich Kunstvermittlung auf die Fahnen geschrieben hätte. (»Hundertwasser farbenfroh, eckig, golden rund / ich seh´was was du nicht siehst und das ist immer bunt.«) Auch „Theaterfloh“ weckt das Interesse von Kindern an etablierten Kulturräumen. »Tagsüber Zirkus und abends Theater« erleben Familien aber auch ständig zu Hause. Es ist also sicher kein Zufall, dass sich die Melodie hier wie eine Eskalationsspirale von Strophe zu Strophe chromatisch höherschraubt.

Neben einer klassischen Bandbesetzung sind auf „Normal“ immer wieder auch Solo-Instrumente zu hören, die zwar reduziert, dafür aber umso zielgerichteter zum Einsatz kommen. Ein schönes Beispiel ist „Hängebauchschwein“, ein Lied, in dem Kiri Rakete über gesunde Atmung sinniert, während eine tief vor sich hinschmierende Posaune ihre Gedanken stimmig untermalt. Nicht nur dieser Titel lässt ein wenig Haltung der Musikerin durschimmern. Auch wenn sie in „Fahrradfahren“ für die Nutzung klimafreundlicher Fortbewegungsmittel plädiert, bezieht sie klar Position, ohne dabei in eine dogmatische Tonalität zu verfallen. „Reisepass“ weckt die Lust auf fremde Länder und Regionen, thematisiert im Subtext aber auch das Privileg uneingeschränkter Reisefreiheit. (»Reisen ohne Reisepass / macht nur auf dem Atlas Spaß.«) Erst mit dem Bonustrack „Namaste“ (feat. Ayensi) setzt sich Kiri Rakete kurz dem Verdacht aus, das Kinderlied ideologisch zu überfrachten. Mit bewundernswerter Leichtigkeit gelingt es ihr schließlich aber auch hier, für eine dankbare Lebenseinstellung zu werben, ohne spirituell geprägte Weltanschauungen zu idealisieren. (»Heute hab ich keinen Bock auf Weisheiten vom Yogi-Tee / grantig sag ich „Namaste“ – das ist auch mal okay.«) Zwei weitere Bonustitel runden das Album zum Ende mitreißend ab. „Es geht sich aus“ (feat. Suli Puschban) feierte bereits vor wenigen Wochen auf dem neuen Album der Berliner Kollegin Premiere. Für einen überaus beschwingten Abschluss sorgt dann noch der Elektro Swing-Remix des schon vor zwei Jahren erschienenen Lieds „Baustelle“. Ein so gelungenes Genre-Experiment kam mir in der Gattung Kindermusik lange nicht mehr zu Ohren. Nach zehn Songs und knapp 30 Minuten Spielzeit ist alles schon wieder vorbei. Viel Zeit ist nicht vergangen, doch dafür ist die Erlebnisdichte dieser Platte erfreulich hoch.

Fazit: Ist es normal, im Kinderlied über Lungen und Bronchien, die Fassadengestaltung der Wiener Müllverbrennungsanlage oder den Fahrplanausbau im öffentlichen Nahverkehr zu singen? Womöglich nicht. Trotzdem gelingt es Kiri Rakete, solche und weitere Alltäglichkeiten in ihre Songs einzuflechten und sie für Kinder ansprechend auszugestalten. Was soll das auch schon heißen, normal? Das ist die Grundsatzfrage, mit der die Musikerin ihre Hörer*innen nicht nur im Albumtitel, sondern mit ihrer ganzen Erscheinung konfrontiert. Nach wie vor richtet sich Kiri Rakete mit ihrer Musik vornehmlich an Kinder im Kita- und Kindergartenalter, doch trotz dieser sehr jungen Zielgruppe gestattet sie es sich, sowohl ihren persönlichen Blick auf die Welt als auch ihr Vokabular nicht künstlich einzuschränken. Ihre von Neugier geprägte Perspektive bringt sie mit charakterstarker Stimme und lebensfrohem Gemüt selbstbewusst auf den Punkt. Dabei bleiben ihre Kompositionen reduziert, sind trotzdem vielseitig und oft überraschend groovig. Das liegt auch daran, dass Kiri Rakete während der vergangenen Jahre ziemlich umtriebig war und in diesem engagierten Prozess eine Schar versierter Musiker*innen um sich versammelt hat, die auf diesem Album in unterschiedlichsten Rollen ihre Finger im Spiel haben. Es macht Freude, Zeuge dieser künstlerischen Entwicklung sein zu können. Bis am Ende des Albums eine Erkenntnis hängenbleibt, die man Kindern gar nicht oft genug mit auf den Weg geben kann: »Was heißt denn schon normal, ist doch bitteschön egal.«


Video




Erschienen bei


recordJet

Veröffentlicht


2023

Bewertung der Redaktion: 5/5


Künstler*in



Porträt Kiri Rakete

Kiri Rakete

Kommentar hinterlassen









×









gefördert von
Christiane Weber Stiftung zur Förderung von Kindermusik
Partner
ConBrio Verlagsgesellschaft