01.01.2021


Ich & Herr Meyer: „Alles ist drin“



Alles kann, aber nicht alles muss



Das Berliner Duo Ich & Herr Meyer hat erst auf Umwegen zur Kindermusik gefunden, bemüht sich seit einigen Jahren aber konsequent darum, einen festen Platz in der Szene einzunehmen. Die Rahmenbedingungen sind denkbar gut, denn Jens Brix und Christoph Clemens bringen nicht nur reichlich Erfahrung aus dem Musikbusiness mit, sondern mit eigenem Studio und eigenem Label auch die besten Voraussetzungen, um künstlerisch autark agieren zu können. Mit „Alles ist drin!“ legen die zwei Musiker ihr zweites Kindermusik-Album vor, das sie selbst als „musikalisch genreübergreifend, radiotauglich und tanzbar und mit positiver Botschaft und ganz viel Humor“ beschreiben. Können die zwei Musiker diesen zahlreichen Zielformulierungen tatsächlich gerecht werden?

Der erste Song des Albums gibt diesbezüglich durchaus Anlass zur Hoffnung. Mit stampfendem Beat, fröhlicher Polka-Anmutung und verspielten Scat-Einlagen geht „Geh dahin, wo die Angst am allergrößten ist“ nicht nur musikalisch direkt in die Vollen, sondern platziert auch gleich eine klare Botschaft an alle Kinder: Lass dich von nichts und niemandem einschüchtern! (»Vielleicht geht es uns heut an den Kragen, niemand vermag das je vorherzusagen / ich muss mich stellen und nicht verzagen / und mit der Angst ein kleines Tänzchen wagen.«) Ähnlich beschwingt kommt auch der nächste Song „Licht aus Film an“ daher, der mit griffiger Hookline eine Hymne auf die erzählerische Kraft des Kinos anstimmt. Solche vergleichsweise harmlosen Themen sind die eine Seite, die das künstlerische Selbstverständnis von Ich & Herr Meyer kennzeichnen.

Die andere Seite ist von dem Anspruch geprägt, Kinder in ihrer Rolle als Weltbewohner*innen für die Verantwortung ihres eigenen Handelns sensibilisieren zu wollen. „Alles ist drin!“ zum Beispiel entführt sie in die Welt großer Utopien und appelliert mit Nachdruck an die Selbstwirksamkeit jedes einzelnen Menschen. (»Hey, ihr da draußen, weltweit in allen Ländern / jeder von uns kann die Welt ein Stück verändern.«). Auch „ViVa Wasser“ nimmt sich eines wichtigen Themas an und fordert den bewussten Umgang mit der lebenswichtigen Ressource ein. Im Stil einer besinnlichen Ballade knüpft auch „Jeder hat seinen Traum 2.0“ an den politischen Anspruch im Kinderlied an. (»Lass dich nur nicht verbiegen / die Träumer werden siegen.«) Würden Ich & Herr Meyer es bei dieser Durchmischung von seichtem Spaß und kindgerechter Ernsthaftigkeit belassen, wäre das im Ergebnis durchaus überzeugend. Leider legt das Duo aber noch diverse Schippen drauf und überspannt den Bogen dabei ein wenig.

Weil wir dich lieben“ ist nur vordergründig eine Hommage an den öffentlichen Nahverkehr, zitiert aber vor allem den Claim der Berliner Verkehrsgesellschaft und weckt somit den Eindruck, als handle es sich hier um eine kommerzielle Auftragsproduktion. „Offline“ holt den pädagogischen Zeigefinger raus und folgt dem abgedroschenen Narrativ eines besseren Lebens ohne Bildschirmmedien. (»Manchmal muss das einfach sein, einfach mal den Kopf befreien / morgen schalt ich wieder ein, doch heute bleib ich offline.«) „Neulich im Mittelalter“ gleicht einem Crashkurs in Sachen Weltgeschichte und unterwirft sich auf seine Weise ebenso einer pädagogischen Absicht. Im Vergleich dazu kommt „Schu Schu Schu Schu Schule“ – zumindest rein musikalisch – fast dadaistisch daher, wirkt mit seiner Kernbotschaft „Schule ist cool“ aber dennoch etwas anbiedernd. Komplett aus dem Rahmen fällt schließlich „Hey Weihnachtsmann“. Auch wenn der Song einen weiten Bogen um besinnliche Klänge macht, reibt man sich angesichts dieses unvermittelt auftauchenden Weihnachtslieds verwundert die Ohren. Da hilft es auch nichts, dass gleich darauf noch die Sommer-Version des Lieds folgt.

Fazit: Der Albumtitel „Alles ist drin!“ lässt sich auf zweierlei Weise interpretieren. Zum einen verweist er auf den großen Möglichkeitsraum, der Jens Brix und Christoph Clemens prinzipiell zur Verfügung steht. Wer, wie Ich & Herr Meyer, praktisch alle Zügel selbst in der Hand hält, der muss vergleichsweise wenig Kompromisse eingehen und genießt größtmögliche künstlerische Freiheit. Da ist in der Tat alles drin – im Sinne von „alles möglich“. Etwas völlig anderes ist es, sämtliche kreativen Ideen, die einem im Verlauf eines Produktionsprozesses in den Kopf kommen, tatsächlich auf einem Album unterzubringen. Dann ist der Titel nicht mehr als eine schlichte Tatsachenbeschreibung. Auf diese Produktion trifft wohl eher die letztgenannte Interpretation zu. Ohne Zweifel haben Ich & Herr Meyer viel mitzuteilen und besitzen überdies auch das Know-How, um ihre inhaltlichen Botschaften in Verse und Lieder zu überführen. Die Fülle an Themen, Stilen und teilweise widersprüchlich wirkenden Absichten macht es aber schwer, den stilistischen Markenkern der Band ausfindig zu machen. Dreh- und Angelpunkt vieler Songs sind zwar die vielschichtigen Gefühlslagen von Kindern, doch viel zu selten nehmen die Songs tatsächlich auch deren Perspektive ein. Es dominiert der wohlmeinende Appell von Erwachsenen, die sich sinnbildlich zu Kindern runterbeugen, anstatt die Begegnung auf Augenhöhe zu suchen. Der künstlerische Anspruch der Produktion erschließt sich so leider nicht vollends. Schade, denn prinzipiell scheint bei Ich & Herr Meyer definitiv mehr drin zu sein.


Video




Erschienen bei


Team de la Cream-Records

Veröffentlicht


2019

Bewertung der Redaktion: 3/5


Künstler*in



Bandfoto "Ich & Herr Meyer"

Ich & Herr Meyer

Kommentar hinterlassen









×









gefördert von
Christiane Weber Stiftung zur Förderung von Kindermusik
Partner
ConBrio Verlagsgesellschaft