04.06.2021


„Der achtsame Tiger – Das Musikhörspiel“



Achtsamkeit im Imperativ



Gleich mehrere interessante Elemente und Akteur*innen treffen bei dieser Produktion aufeinander. Da wäre zunächst das gleichnamige, 2019 erschienene Kinderbuch des Autors Przemyslaw Wechterowicz und der Illustratorin Emilia Dziubak, auf dem die Geschichte des Musikhörspiels vom achtsamen Tiger basiert. Hinzu kommen die kompositorische und textliche Arbeit von Martin Lingnau und Heiko Wohlgemuth, zwei überaus erfahrenen Musical-Autoren. Weiterhin erscheint „Der Achtsame Tiger“ beim von Rolf Zuckowski gegründeten Nachwuchs-Label „noch mal!!!“, auf dem zum Beispiel auch die Band Deine Freunde oder das Musik-Hörspiel „Eule findet den Beat“ erschienen sind. In Anbetracht dieser besonderen Konstellation weckt die Produktion reichlich Neugier und motiviert zum genauen Hinhören.

Held der Geschichte ist der titelgebende, achtsame Tiger, der ein wenig aus seiner Art geschlagen scheint. Er schlitzt nämlich lieber Obst als andere Tiere auf. Außerdem hilft er den Organ-Utans beim Frisieren, den Ameisen beim Bau ihres Ameisenhaufens, den Papageien beim Ausbrüten ihrer Eier und der Schlange beim Entknoten ihres Körpers. Kurz: Der achtsame Tiger ist ein überaus hilfsbereiter und freundlicher Geselle und macht sich im Dschungel jede Menge Freunde. Dieses Setting ist durchaus klug gewählt, denn im Gewand einer modernen Fabel entgeht diese sich im Kern um Vielfalt und Toleranz drehende Geschichte der Gefahr, allzu plump gesellschaftliche Klischees und Stereotype zu reproduzieren. Jenseits dieses erzählerischen Anspruchs ist sie aber auch mit kleinen Weisheiten aus der Achtsamkeitslehre gespickt – einer aus dem Buddhismus stammenden Praxis, die einen Zustand absoluter Geistesgegenwart befördern und die Aufmerksamkeit gegenüber uns selbst und unserer Umwelt schärfen soll.

Was genau Achtsamkeit für den Tiger bedeutet, erfahren Kinder nicht nur aus seinem fortlaufenden und oft witzig geratenen Wortwechsel mit dem Erzähler, sondern auch aus den zehn Liedern, die den Inhalt der Geschichte musikalisch durchaus abwechslungsreich illustrieren. Im Titelsong wird zunächst klargestellt, dass „Der achtsame Tiger“ ein »Keingrashalmverbieger« ist, der in der »friedlichen Liga« spielt. Gleich danach waltet das freundliche Raubtier seines achtsamen Amtes. In „Warum denn nicht“ ermuntert er das mutlose Krokodil dazu, mehr Mut zu haben. (»Was wagen statt zu klagen, das hilft aus meiner Sicht / und dreimal täglich sagen: Na klar, warum denn nicht?«) Der verknoteten Schlange verrät er seinen „Tigertrick“, der da lautet: »Ich atme ein, ich atme aus / und zwar in aller Ruhe.« Zusammen mit dem Faultier sinniert der Tiger über „Langeweile“ (»Freund, du brauchst Langeweile / nimm dir mal Zeit um nix zu tun.«) Der pessimistisch veranlagten Papageien-Mama empfiehlt er in „Schau doch mal nach oben“, sich mehr Zeit für sich selbst zu nehmen. Und in „Ich mag mich so wie ich bin“ bläut er dem traurigen Tapir unmissverständlich ein: »Hör auf dich zu vergleichen, heul nicht dem nach, was nicht ist / schätz was du hast und hab dich einfach lieb so wie du bist.«

Rein musikalisch folgen diese Lieder den typischen Regeln eines Musicals. Behutsam bedienen sie sich an den Stilmerkmalen verschiedener Genres – mal swingt es, mal rockt es und einmal dominiert sogar ein lässiger Offbeat. Dabei sind die Songs eher eingängig und orchestral als kunstvoll und verspielt, doch das alles geht voll in Ordnung. Schwer zu ertragen ist dagegen der etwas plump geratene Umgang mit dem Thema Achtsamkeit. Nicht nur, weil es auf Aspekte wie Atmung, Ernährung oder Langeweile heruntergerbrochen wird, sondern vor allem, weil sich die grundsätzliche Frage stellt, warum sich Kinder überhaupt damit auseinandersetzen sollten? Trotz aller guten Absichten drängt sich bei dieser Produktion der Verdacht auf, dass sich hier vor allem Eltern angesprochen fühlen sollen, die in ihrem Alltag auf der Suche nach Entschleunigung und Entspannung sind. Beides schadet sicherlich auch Kindern nicht, doch in ihrem von Neugier und Tatendrang getriebenen Wesen wird sich ihnen der Nutzen und die Notwendigkeit derartiger Prinzipien nur schwer erschließen. Zwar ist „Der achtsame Tiger“ trotz dieser Kritik eine schöne Geschichte. Leider haftet ihr aber der fahle Beigeschmack an, Kinder wie kleine Erwachsene zu behandeln.

Fazit: In diesem konkreten Fall ist es aufschlussreich, die Entwicklung vom Buch zum Musikhörspiel nachzuvollziehen. Der polnische Originaltitel lautet nämlich „Być jak tygrys“, auf Deutsch also „Wie ein Tiger sein“. In der englischen Übersetzung wiederum heißt das Buch „The secret life of a tiger“, also „Das geheime Leben eines Tigers“. Wie kommt es nur, dass der Tiger in der deutschen Fassung plötzlich zu einem achtsamen Zeitgenossen wird? Vermutlich, weil dieses Thema gegenwärtig Hochkonjunktur hat und sich längst auch in entsprechenden Produkten für Kinder manifestiert – wie etwa dem „Happy Self Journal“, einem Tagebuch, das das Glücklichsein fördern, positive Gewohnheiten stimulieren und die kindliche Neugier beflügeln soll. „Der achtsame Tiger“ versucht auf seine Weise Ähnliches, vermittelt Achtsamkeit aber im Imperativ. Anstatt auf leisen Pfoten, kommt die Botschaft fast im Befehlston daher. Das wirkt wenig zielgruppengerecht und darf in seiner pädagogischen Intention in Frage gestellt werden. Denn gerade Kindern muss ein Zustand absoluter Geistesgegenwart weder beigebracht noch vermittelt werden – in der Regel bringen sie ihn von Natur aus mit. Das allzu offensichtlich aus erwachsener Perspektive übergestülpte Konzept hätte dieses Musikhörspiel nicht gebraucht, doch so können zumindest die mithörenden Eltern noch etwas aus der Geschichte lernen.


Video




Erschienen bei


noch mal!!!/Universal

Veröffentlicht


2021

Bewertung der Redaktion: 3/5


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