Albumcover "Der Erna ihr dritter Streich"
29.04.2022


Raketen Erna: „Der Erna ihr dritter Streich“



Mehr als die Summe der einzelnen Teile



Wer sich in den letzten Jahren auch nur oberflächlich mit Kindermusik beschäftigt hat (oder regelmäßig die Rezensionen bei „Mama lauter!“ liest), der oder die wird registriert haben, dass das traditionelle Kinderlied inzwischen viel Konkurrenz bekommen hat. Zahlreiche Musiker*innen, die sich eigentlich in ganz anderen musikalischen Betätigungsfeldern austoben, wagen Ausflüge in die Gattung Kindermusik und bereichern sie mit frischen Ideen und neuen Sounds. Allerdings beweisen dabei längst nicht alle so viel Stehvermögen wie Raketen Erna. 2017 haben Marceese Trabus und seine Mitstreiter*innen mit „Bouletten Beats“ ihr eigenwilliges Kindermusik-Debut veröffentlicht. 2020 wurde mit „Mir doch egal, ich lass das jetzt so“ der Nachfolger vorgelegt, folgerichtig beschert uns die Band nun „Der Erna ihr dritter Streich“.

In der Popmusik werden häufig besondere Erwartungen an das dritte Album geknüpft. Gestandene Fans freuen sich über künstlerische Weiterentwicklungen und unerwartete Überraschungen. Zugleich soll sich das musikalische Ergebnis aber auch nicht allzu weit von dem entfernen, wofür man die Band einst ins Herz geschlossen hat. Nun müssen Kindermusiker*innen aber mit dem besonderen Umstand leben, dass ihre treue Zuhörerschaft früher oder später ohnehin das Weite sucht. Denn egal wie sehr Kinder ihre musikalischen Idole einst geliebt haben: Irgendwann lässt ihre Leidenschaft für Kinderlieder nach. In der Gattung Kindermusik ist es praktisch ein Naturgesetz, dass man sich sein Publikum fortlaufend neu erspielen muss. Das kann ungemein anstrengend sein, gibt den Musiker*innen aber zugleich die Freiheit, sich auf die eigenen Stärken zu konzentrieren, anstatt sich immer wieder neu erfinden zu müssen. Genau das tun Raketen Erna auf ihrem dritten Album.

Mindestens zwei Dinge gehören zu den Markenzeichen der Band: Ihr ungeschliffener Gitarren-Sound und ihre schnörkellose Ansprache, die Kinder im Kindsein annimmt, ernst nimmt und stärkt. Diesbezüglich macht auch „Der Erna ihr dritter Streich“ keine Ausnahme. Zwar lassen manche Lieder durchaus pädagogisches Verantwortungsgefühl durchschimmern, entziehen sich dabei aber geschickt der Gefahr, allzu plump oder kindlich daherzukommen. „Straßenschilder“ beispielsweise fühlt sich dem Erbe von Rolf Zuckowskis Schulweg-Hitparade verpflichtet, klingt in Wort und Ton aber deutlich schnoddriger. (»Gelb steht für Orte, Umleitungen und Wegweiser / Kopfhörer aus den Ohren oder mach doch mal den Scheiß leiser.«) Im direkten Vergleich dazu versprüht „Ich flieg durch die Straßen“ nochmal deutlich mehr Euphorie, wenn es ganz ohne Verkehrserziehungsanspruch die unbändige Freude am Radfahren vermittelt. (»Ich krall mich an mein Lenker, ich rase wie der Wind / ich sause wie ein Henker, wie das himmlische Kind.«) Mit viel Schalala ermutigt „Es wird funktionieren“ Kinder zu Ausdauer und Geduld und geschickt greift „Zu viel ist zu viel“ das Einmaleins auf, um Kinder spielerisch für maßvollen Konsum zu sensibilisieren.

Mit der Nachahmung von allerlei Tiergeräuschen bemüht sich auch „Ein Tier ist ein Tier“ um eine kindgerechte Ansprache, offenbart aber zugleich ein drittes und das vielleicht stärkste Markenzeichen von Raketen Erna: Ihren gesellschaftspolitischen Anspruch. Trotz aller Verspieltheit verzichtet der Song nämlich nicht auf kritische Untertöne. (»Ich bin ein Schwein und ich oinke. Oink! Oink! / Die Menschen essen mich mit Brot, zum Glück bin ich dann tot.«) Viele weitere Songs funktionieren ähnlich. „Trend-Man“ verknüpft kontroverse Debatten mit kindlichen Held*innen-Phantasien. (»Trend-Man gendert schon seit Jahren / Trend-Man kann man alles fragen.«) Die „Ballade vom Wolf“ erzählt eine tierische Transgender-Geschichte und findet als Fabel genau die richtige Form für dieses sensible Thema. (»So enge Hosen würd er auch gerne tragen / doch was würde sein alter weißer Wolf-Vadder sagen?«) „Glück ist Glück“ wiederum schärft nicht nur den kindlichen Blick für die wahren Freuden im Leben, sondern auch für Vielfalt, Solidarität und Toleranz. (»Glück ist erst Glück, wenn es für jeden reicht / denn alleine Glück zu haben, bringt dich nicht weit.«) Es sind vor allem diese Lieder, mit denen die Band das weite Spektrum zwischen traditionellem Kinderlied und kantigem Alternative-Act auslotet. Am deutlichsten wird dieser Spagat vielleicht bei den unscheinbaren „Elefanten Fakten“ sichtbar – kurze musikalische Einspielungen, gepaart mit sachlichen Informationen zu den bedrohten Dickhäutern. Gleich viermal wird der Fluss des Albums durch diesen vordergründigen Nonsens unterbrochen, der aber durchaus aufklärerischen Anspruch im Sinne des Tierschutzes hat. Ähnlich kennen wir es auch von Kindern: Was raus muss, muss raus! Die Frage nach Sinnhaftigkeit oder inhaltlicher Stringenz spielt dabei im Zweifel eine untergeordnete Rolle. Nicht jede Band könnte sich das erlauben, bei Raketen Erna fügen sich derlei Experimente aber auf eigentümliche Weise stimmig ins Gesamtbild.

Fazit: Im inzwischen fünften Jahr treten Raketen Erna den überzeugenden Beweis an, dass Kindermusik längst eine ernstzunehmende Kunstform ist. Charts-verwöhnte Ohren werden in manchen Momenten fremdeln, doch diese Band hat das Unperfekte, das Eckige und Kantige von Anfang an zum Konzept erkoren. Mir persönlich ist keine andere Kindermusik-Formation bekannt, die sich so wenig um den popkulturellen Zeitgeist schert und gerade durch diese Haltung so sehr an Profil gewinnt. Es ist das selbstbewusste Zusammenspiel aus kindlicher Freigeistigkeit und musikalischem Stilwillen, das die Handschrift von Raketen Erna kennzeichnet. Sich wohlig auflösenden Reimen geht die Band gezielt aus dem Weg. Die Kompositionen strotzen nicht unbedingt vor Komplexität und in Anbetracht der überschaubaren Instrumentierung von E-Gitarre, Schlagzeug und Bass sind auch die Arrangements des Trios nicht gerade preisverdächtig. Umso mehr treten der charakteristische Retro-Sound, der mehrstimmige Gesang und der Genremix aus Rock, Pop, Punk und Ska in den Vordergrund. So entsteht am Ende deutlich mehr, als es die Summe der einzelnen Teile vermuten lassen würde. Schon oft (und durchaus zu Recht) wurden Raketen Erna in einem Atemzug mit der Band Ton, Steine, Scherben genannt. Um zur Veranschaulichung einfach mal einen anderen Vergleich zu bemühen: Hätten sich Die Ärzte mit den Beatles zusammengetan um gemeinsam Kinderlieder zu komponieren, dann hätte dabei eine Platte wie diese entstehen können. Leider taten sie es nicht – aber zum Glück gibt es ja Raketen Erna.


Video




Erschienen bei


Newtone/Cargo

Veröffentlicht


2022

Bewertung der Redaktion: 4/5


Künstler*in



Raketen Erna

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