01.01.2021


„Hier lebst du – Unsere liebsten Kinderlieder“



Eine nostalgische Zeitreise in die ostdeutsche Kindheit



Dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer wird im Osten wie im Westen auf die Wiedervereinigung zurückgeschaut und häufig tritt dabei eine wenig überraschende Einsicht zutage: Nicht alles in der DDR war schlecht. Natürlich nicht! Auch innerhalb eines repressiven politischen Systems vollzieht sich ein normaler Alltag für die Menschen, die darin leben. Praktisch über Nacht sahen sich die Bürger*innen der nicht mehr ganz neuen Bundesländer aber plötzlich mit der Herausforderung konfrontiert, ihr vertrautes Leben gegen die Verheißungen des Westens eintauschen zu müssen. Heute müssen wir einsehen und verschmerzen, dass die Radikalität dieses Umbruchs die Bedürfnisse, Erwartungen und Erfahrungen der ostdeutschen Bevölkerung weitestgehend unberücksichtigt ließ. Viele von ihnen sehen sich bis heute ihrer kulturellen Identität beraubt. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Idee, anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls zwölf Neuinterpretationen bekannter und beliebter DDR-Kinderlieder zu veröffentlichen, besonderen Charme und Relevanz.

„Hier lebst du“ versammelt verschiedenste Musiker*innen, die nicht nur in der DDR aufgewachsen sind, sondern dort auch künstlerisch aktiv waren. Zu ihnen gehören Bands wie Karat, Bayon, Die Zöllner oder Keimzeit, aber auch Einzelinterpret*innen wie Frank Schöbel, Uschi Brüning oder Angelika Mann. Sie alle suchten sich für diese Produktion ein Kinderlied aus und interpretierten es nach ihren eigenen Vorstellungen und Wünschen neu. Im Ergebnis entstand eine Compilation, die eine überraschend ruhige, fast nostalgische Anmutung hat.

Exemplarisch sei das Lied „Die Alte auf der Schaukel“ genannt, im Original vom Kinderliedermacher Gerhard Schöne gesungen, hier detailverliebt vom Keimzeit Akustik Quintett neuinterpretiert. Ausgerechnet Karat, die früher eher durch laute Töne auf sich aufmerksam machten, überraschen mit dem Schlaflied „Leise, Peterle, leise“,das auf ein Gedicht von Paula Dehmel zurückgeht. Bayon steuern mit „Der Frühling“ hingegen ein Lied bei, das die Band schon 1983 für den DDR-Hörfunk produziert hatte, das jedoch nie veröffentlicht wurde. Selbstverständlich wird auch das Schaffen von Reinhard Lakomy angemessen gewürdigt. Mit „Mondsilbertaufe“ (Uschi Brüning), „Der Eierbecher“ (Die Zöllner) und „Mary Lou“ (Angelika Mann) sind gleich drei Lieder aus seinem Liederzyklus „Traumzauberbaum“ auf der Compilation vertreten und zollen der 2013 verstorbenen Kinderlied-Ikone Tribut. Reinhard Repke und sein Club der toten Dichter nehmen sich dem Klassiker „Kinder (Sind so kleine Hände)“ von Bettina Wegener an, Dirk Michaelis steuert mit „Kleine weiße Friedenstaube“, im Original von Erika Schirmer, eines der bekanntesten Kinderlieder aus der DDR bei.

Es liegt in der Natur der Sache, dass das Gesamtergebnis etwas großväterlich bzw. -mütterlich daherkommt. In diesem Fall ist das aber zu verschmerzen, denn dem Ansinnen der Produktion ist diese Anmutung durchaus zuträglich. Zudem lockern mit Bürger Lars Dietrich („Die Geschichte vom fernsehverrückten Frank“) und der Stüba-Philharmonie („Sandmann, lieber Sandmann“) zumindest zwei Vertreter aus der jüngeren Generation die Compilation ein klein wenig auf.

Fazit: „Hier lebst du“ repräsentiert nicht das moderne Kinderlied, sondern lädt seine Hörer*innen zu einer musikalischen Entdeckungsreise ein. Die größtenteils zurückhaltenden Interpretationen geben den Texten der einzelnen Lieder viel Raum zur Entfaltung, die Herangehensweisen der verschiedenen Künstler*innen zeugen von musikalischem Gestaltungswillen und großer Wertschätzung gegenüber dem Original. Auf diese Weise erreichen die Lieder Herz und Hirn gleichermaßen. Gerade weil die DDR inzwischen Geschichte ist, erfüllt diese Sammlung mindestens zwei wichtige Funktionen. Zum einen würdigt sie das zeitlose Schaffen der Kindermusiker*innen aus dem Osten Deutschlands. Zum anderen tritt sie den Beweis an, dass Kindheit mit einem Lebensgefühl verbunden ist, dem die Einteilung in Ost und West ziemlich egal ist. Nur wir Erwachsene sind noch immer damit beschäftigt, diese Trennung aus unseren Köpfen zu kriegen. Der kürzeste Weg zu diesem Ziel führt durch unsere Ohren – und durch die Ohren unserer Kinder.


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Erschienen bei


Sauerländer Audio / Argon Verlag GmbH

Veröffentlicht


2019

Bewertung der Redaktion: 4/5


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