Albumcover "Let's go everywhere"
28.10.2022


Medeski, Martin & Wood: „Let's go everywhere“



The groove is on!



Für gewöhnlich richtet "Mama lauter!" seinen Blick ja nur auf deutschsprachige Kindermusik. Der Grund dafür dürfte einleuchtend sein: Kinderlieder definieren sich nunmal entscheidend über ihren Inhalt, über die Geschichten, die sie erzählen. Ohne entsprechende Fremdsprachenkenntnisse bleibt Kindern der Zugang zu eben diesen Inhalten natürlich verwehrt. Obwohl wir Musik also gerne (und durchaus zu Recht) als „Weltsprache“ verstehen die sprachliche Hürden mühelos überwindet, kann diese Zuschreibung in der Gattung Kindermusik nur eingeschränkt gelten. Das bereits 2008 erschienene Album „Let’s go everywhere“ des US-amerikanischen Jazz-Trios Medeski, Martin & Wood hebt diese Einschränkung allerdings geradezu beispielhaft auf.

Eigentlich handelt es sich bei dem Trio gar nicht um eine originäre Kindermusik-Band. So wie wir es inzwischen auch von zahlreichen Musiker*innen aus Deutschland kennen, stellt Kindermusik auch im künstlerischen Spektrum von Medeski, Martin & Wood eher die Ausnahme als die Regel dar. Eine eindeutige Genre-Zuordnung fällt angesichts des virtuosen Zusammenspiels von Schlagzeug, Bass und wechselnden Tasteninstrumenten ohnehin schwer. Als Jazz-Funk, Post-Bob oder Soul-Jazz wurde die Musik der 1991 gegründeten Band unter anderem bezeichnet. Mit dem Begriff „Avant-Groove“ ist sie aber womöglich am treffendsten erfasst. „Wir machen so etwas wie Jazz, indem wir eine Instrumentalgruppe sind, aber wir spielen definitiv keinen swingenden Jazz. Wir grooven!“, lässt sich Keyboarder John Medesky in einer Bandbiografie zitieren. Und eben dieser Groove steht auch im Zentrum von „Let’s go everywhere“.

Mit einer an eine Spieluhr erinnernde Soundcollage eröffnet das kurze Instrumental „Waking up“ die Platte, das sodann den Weg für den Titeltrack „Let‘s go everywhere“ freimacht. Der überaus heiter geratene Song, der sich als musikalische Referenz auf Johnny Cashs „I‘ve been everywhere“ versteht, versprüht durch die Aneinanderreihung unzähliger Orte und Länder einen sprachwitzigen und damit wunderbar kindlichen Charme. Wenig später nimmt dann „The Train Song“ Fahrt auf. Veredelt mit der markanten Stimme des Blues-Sängers Oliver Wood, gewinnt das Lied fortlaufend an Tempo und findet auch in seiner Instrumentierung stimmige Analogien zum stampfenden Sound eines Zuges. „Pirates don’t take baths“ shuffelt sich durch eine muntere Erzählung über den kindlichen Kampf zwischen Selbstbestimmung und lästigen Pflichten, während „Where‘s the music“ textlich radikal reduziert daherkommt. Mehrfach wird das sich zu einem fulminant groovenden Track entwickelnde Stück von ungeduldig schreienden Kindern unterbrochen, die immerzu die gleiche Frage stellen: Where’s the music? Ein Stopp-Tanz von besonders mitreißender Qualität. Als das englische Pendant zu „Backe, backe Kuchen“ greift das kurze Zwischenspiel „Pat a cake“ sogar traditionelle Kinderlyrik auf. Nur von einem Schlagzeug begleitet hat diese von Kindern vorgetragene Interpretation allerdings deutlich mehr Nähe zu Hip-Hop als zu einem klassischen Kinderlied.

Neben diesen gesungenen Liedern, die auf jeweils eigene Art auch für Kinder ohne Englischkenntnisse anschlussfähig sind, wartet „Let’s go everywhere“ zudem mit einer Reihe von Instrumentalstücken auf, die den Musikern Raum zur Entfaltung geben und sich dabei unterschiedlichster musikkultureller Einflüsse bedienen. Hinsichtlich im Jazz oft vorzufindender Überlängen hält sich das Trio dabei allerdings bewusst zurück. Auch wenn Musikalität im Zentrum dieser Platte steht, behält es die kurzen Aufmerksamkeitsspannen von Kindern immer gut im Blick. Lediglich „The Squalb“ dürfte für deutschsprachig aufwachsende Kinder herausfordernd sein, denn die gesprochene und nur beiläufig musikalisch untermalte Erzählung über das liebenswerte Flusenmonster werden sie kaum verstehen können. Im Kontext einer Produktion, die maßgeblich von formaler Vielfalt und dem stetigen Wechsel aus gesungenen und instrumental vorgetragenen Stücken lebt, fügt sich aber selbst dieses hörspielartige Einspielung organisch in das Gesamtwerk ein.

Fazit: Zwei Dinge stehen bei dieser Produktion im Mittelpunkt: Musikalität und Experimentierfreude. Eigentlich auf ein erwachsenes Publikum gepolt, betonen Medeski, Martin & Wood auf „Let's Go everywhere“ die kindliche Herangehensweise an das Musizieren. Sie zeigen sich verspielt, manchmal albern, vor allem aber grenzenlos offen. So wie Kinder in „All around the kitchen“ lustvoll ihre Leib- und Magenspeisen zu einer niedlichen Soundcollage vermengen, so greift auch das Trio auf seinen reichhaltigen musikalischen Fundus zurück, ohne sich vom selbstgewählten Konzept einer Kindermusik-Platte künstlerisch einschränken zu lassen. Eigentlich sind es nur die gezielt und stimmig eingeflochtenen Kinderstimmen, die „Let‘s go everywhere“ eindeutig als ein Album für Kinder kennzeichnen. Und genau diese Zutat ist es auch, mit der das Trio die sprachlichen Barrieren geschickt einzureißen versteht. Selbst 14 Jahre nach ihrer Entstehung hat die Produktion nichts von ihrem Potential verloren, Kinder auf der ganzen Welt für die Vielseitigkeit von Musik zu begeistern. Es bräuchte mehr solcher unverkrampften Experimente, aus allen musikalischen Genres. Denn bekanntermaßen ist die Offenheit gegenüber neuen musikalischen Einflüssen nie grösser als in der Kindheit.


Video




Erschienen bei


Little Monster Records

Veröffentlicht


2008

Bewertung der Redaktion: 5/5


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