Albumcover "Kinderlieder: Umgedacht & neu gemacht"
09.09.2022


herrH: „Kinderlieder: Umgedacht & neu gemacht“



Vorwärts in die Vergangenheit



Neulich habe ich mir zum ersten Mal den Film „Zurück in die Zukunft“ angeschaut. Ich weiß, damit bin ich ziemlich spät dran, aber früher kam ich irgendwie nicht dazu. Überrascht stellte ich fest: Als ein Kind der 80er hat mich der Film auch fast 40 Jahre nach seinem Erscheinen noch gut unterhalten – die Kraft der Nostalgie macht’s möglich! Ob es Simon Horn aka herrH ähnlich ergangen ist, als er mit der Arbeit für sein inzwischen sechstes Kindermusik-Album begonnen hat? Anders als Marty McFly reist der Musiker auf „Kinderlieder: Umgedacht & neu gemacht“ allerdings nicht zurück in die Zukunft, sondern – so beschreibt es Simon Horn selbst – vorwärts in die Vergangenheit. Auf seiner jüngsten Veröffentlichung überführt er nämlich ein Dutzend traditioneller Kinderlieder in den Sound der Gegenwart.

„Mit diesem Album hat vermutlich keiner von euch und ehrlicherweise auch ich nicht gerechnet!“, teilt der fleißige Kinder-Entertainer den Fans auf seiner Website mit. Es sei seiner neuen Rolle als Vater zu verdanken, dass er Songs wie „Die Katze tanzt allein“, „Bi-Ba-Butzemann“ oder „Hänschen klein“ wiederentdeckt hat und sie natürlich auch mit seinem Kind singt. Tja, und so kam dann irgendwie eins zum anderen. Prinzipiell gibt es durchaus gute Gründe, die für diese Art der musikalischen Rückbesinnung sprechen: Lieder aus der eigenen Kindheit wecken längst verschüttet geglaubte Erinnerungen und können eine wichtige emotionale Grundlage bilden, wenn es darum geht, sich als Mutter oder Vater auf die Lebenswelt der eigenen Kinder einzulassen. Zudem setzen sich viele junge Eltern intensiv mit der Frage auseinander, welche Werte sie ihren Kindern vermitteln wollen. Traditionelle Kinderlieder sind eng an diese Wertvorstellungen gekoppelt. Sie verleihen Festen und Feiertagen symbolische Bedeutung, illustrieren den Wandel der Jahreszeiten, stärken kulturelle Identität und festigen soziale Rollenbilder. Spiel- und Bewegungslieder bilden dabei nochmal eine spezifische Untergruppe, denn sie gehen oft mit der Absicht einher, Kinder auch pädagogisch oder motorisch fördern zu wollen. Alles schön und gut. Tatsache ist allerdings auch, dass es bereits unzählige Neuinterpretationen dieser Lieder gibt. Der Musikmarkt für Kinder ist voll davon und regelrecht übersättigt. Braucht die Welt nun also auch noch dieses Album?

Würde sich herrH auf „Kinderlieder: Umgedacht & neu gemacht“ einem wirklich innovativen Geist verpflichtet fühlen, dann ließe sich die Veröffentlichung dieser Platte noch irgendwie nachvollziehen. Furchtbar viel hat er am hinlänglich bekannten Ausgangsmaterial allerdings gar nicht verändert. Gut, inhaltlich reichert er den ein oder anderen Song mit dezenten Ergänzungen, Abweichungen oder Umdeutungen an. »Und ich liebe alles was so grau ist / weil da so viel Platz ist zwischen weiß und schwarz.«, heißt es etwa in „Grün grün grün sind alle meine Kleider“. Und in „Auf einem Baum ein Kuckuck saß“ fällt der Vogel nicht mehr dem schießwütigen Jäger zum Opfer, sondern bricht mutig in Richtung Süden auf. (»Lass den Wind dich begleiten, flieg hoch durch die Weiten / Richtung sonnige Seiten, wünsch dir ne gute Reise.«) Trotz dieser zaghaften lyrischen Eingriffe weichen die Texte aber kaum von den vertrauten Originalen ab und behalten folglich hohen Wiedererkennungswert. Deutlich eigenwilliger mutet dagegen die musikalische Umsetzung der Produktion an. Klangästhetisch bewegen sich die Lieder im Spannungsfeld zwischen Schlager, Techno und Pop. Recht temporeich sind zum Beispiel „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“, „Auf der Mauer auf der Lauer“ oder „Ich bin ein kleiner Tanzbär“ geraten. Wer mag, kann diesen Sound für modern und zeitgemäß halten und dem Album damit einen musikkulturellen Mehrwert zusprechen. Objektiv betrachtet besteht das Alleinstellungsmerkmal dieser Platte aber lediglich darin, dass jeder Song um den „ultimativen herrH-Sound mit ordentlich Beats und Bumms“ angereichert wurde. So können sich auch schon die jüngsten Kinder an die Konformität des Formatradios gewöhnen und finden noch früher als bisher den Zutritt in das musikalische Universum des umtriebigen Alleinunterhalters.

Fazit: Fühlt sich Simon Horn mit diesem Album tatsächlich der Tradition, oder doch eher der frühen Kundenbindung verpflichtet? Auf den ersten Blick erscheint es nicht komplett abwegig, dass er in seiner neuen Vaterrolle ein Faible für klassische Kinderlieder entwickelt hat und sich infolgedessen dazu berufen fühlte, ihnen ein klangliches Update zu verpassen. Nostalgie ist starkes Motiv, kann aber auch komplett in die Irre führen, wie sich aktuell an der völlig aus dem Ruder gelaufenen Debatte rund um den Film „Der junge Häuptling Winnetou“ beobachten lässt. Etymologisch betrachtet steht der Begriff „Nostalgie“ übrigens für das schmerzhafte Verlangen nach Heimkehr – was die Motivation zu diesem Werk in ein ganz anderes Licht rückt. Nach kurzer Unterbrechung ist herrH mit diesem Album nämlich zu seinem Heimat-Label Sony-Music zurückgekehrt. Dort legt man sich ordentlich ins Zeug, um auch im Kindermusik-Business relevant zu bleiben. „Es ist höchste Zeit, klassische beziehungsweise traditionelle Kinderlieder mit einem neuen Sound ins Hier und Jetzt zu holen“, lässt sich der neue Product-Manager der hauseigenen Family Entertainment-Abteilung Europa zitieren. Er wird wissen, dass sich mit einer Platte wie dieser vergleichsweise gute Umsätze oder zumindest viele Klicks erzielen lassen – schließlich klappt das bei Simone Sommerland und Co. ja auch schon seit Jahren. Somit hat sicher auch dieses Album von herrH das grundlegende Potential, Kinder an musikalische Folklore heranzuführen – nicht zuletzt, weil alle Lieder auch in einer Instrumentalversion zur Verfügung stehen. Eine Lücke schließt es damit aber ganz sicher nicht, denn der oft ziemlich verklärte Rückgriff auf Tradition und Brauchtum hat in der Gattung Kindermusik schon viel zu lange Tradition.


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Erschienen bei


Europa/Sony Music

Veröffentlicht


2022

Bewertung der Redaktion: 2/5


Künstler*in



Pressefoto "herrH"

herrH

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