Cover "Sensibelchen"
03.02.2023


Jaël: „Sensibelchen“



Erfrischend sensibel



„Das Sensibelchen weiß, es ist anders. Es spürt mehr, sieht mehr und riecht mehr als andere. Es hat andere Interessen und Spielideen und soo viele Fragen. Manchmal kommt es sich vor, als wäre es von einem fernen Planeten. Das ist nicht einfach.“ Diese Zeilen eröffnen den Klappentext des Bilderbuchs, das zu dem hier besprochenen Album erhältlich ist. Und sie führen ein in den thematischen Kosmos, das diesem Werk zugrunde liegt.

Der Begriff „sensibel“ beschreibt die ausgeprägte Empfindsamkeit von Menschen. Die verniedlichende Zuschreibung „Sensibelchen“ ist jedoch in aller Regel negativ konnotiert. Wer sensibel ist, der oder die wird gern als schwach, kaum belastbar oder schnell überfordert abgestempelt. Der Albumtitel ist also fast provokant und sicher nicht zufällig gewählt. Hochsensibilität meint jedoch etwas anderes. Es handelt sich dabei um eine relativ weitverbreitete Persönlichkeitsdisposition, von der Kinder wie Erwachsene betroffen sein können – laut Forschung immerhin 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung. Sogenannte hochsensitive Menschen haben außergewöhnlich feine Antennen für die Stimmungen ihrer Mitmenschen. Sie bemerken mehr Details als andere und reagieren empfindlicher auf die Reize, die tagtäglich auf uns einprasseln. Immer stärker ist dieses Phänomen in den letzten Jahren in die öffentliche Wahrnehmung vorgedrungen. Manche tun es lapidar als ein Trendthema ab, doch der Perspektive Betroffener wird diese geringschätzige Haltung sicher nicht gerecht.

Eine dieser Betroffenen ist die Schweizer Musikerin Jaël, die manchen als Sängerin der Pop-Band Lunik bekannt sein könnte. Für und mit ihrem Sohn war sie auf der Suche nach schönen Kinderliedern. Da ihre Recherche offenbar erfolglos blieb, entschloss sie sich kurzerhand dazu, diese Lücke einfach selbst zu schließen – ein gerade von Popmusiker*innen gern bemühtes (obwohl ziemlich überholtes) Narrativ, um ihren Ausflug in das Neuland der Kindermusik zu legitimieren. Im Herbst 2021 veröffentlichte Jaël also „Sensibeli“, ein Kindermusikalbum in berndeutscher Mundart. Komponiert, arrangiert und getextet für „sensible Seelen“. Vom großen Erfolg und breiten Zuspruch wurde sie offenbar selbst überrascht, so dass es erst im zweiten Schritt zur Übersetzung ihrer Kinderlieder ins Hochdeutsche kam. Die sind nun allesamt auf dem Album „Sensibelchen“ erhältlich, das man in Anbetracht dieser Vorgeschichte mit Fug und Recht als ein Konzeptalbum bezeichnen kann. Doch wie genau unterscheidet sich Musik für hochsensible Kinder von „normaler“ Kindermusik?

Inhaltlich, so lässt sich nach dem Durchhören festhalten, grenzen sich die meisten Songs kaum von anderen Kinderliedern ab. „Warum wieso“ greift kindliche Neugier und den manchmal anstrengenden Forscher*innengeist von Kindern auf. Vergleichsweise beschwingt versöhnt „Ein wenig mehr wie du“ mit der Erkenntnis, dass jeder Mensch Stärken und Schwächen hat. (»Alle sind anders und alle sind gut.«) „Stell dir vor“ beschwört die Kraft der Phantasie (»Nur ein Funken Phantasie färbt die Welt kunterbunt / mein Zimmer wird zur Galaxie, der Gartenstuhl zum Hund.«), während sich „Drachentanz“ der beliebten Metapher eines sorglos umherfliegenden Drachens bedient. Von mehr oder weniger geheimen Rückzugsorten handelt „Hier fühl ich mich wohl“ (»Hier fühl ich mich wohl, hier finden sie mich nicht / ich kann sein wie ich bin und will nirgendwo hin / wenn ich in meiner Höhle bin.«), wogegen „Immerzu nur nein“ die Grenzen beklagt, die Kindern im Alltag gesetzt werden. Erzählerische Ideen wie diese sind nicht gerade neu. Selbst der „Schmetterling“ ist eines der meistbesungenen Tiere im Kinderlied. Einzelne Songs wagen sich aber tatsächlich auch in weniger klassische Sphären vor. „Wir sind drei“ zum Beispiel beschreibt einen Mobbing-Konflikt zwischen drei Freundinnen und die mit dieser Art von Ausgrenzung verbundenen Gefühle. „Das Ende der Welt“ stellt die philosophische Frage nach dem Ursprung des eigenen Lebens und mit „Wach auf“ wagt sich Jaël sogar an die Tabuthemen Tod und Trauer heran. Der letzte Song „Sensibelchen“ bleibt jedoch der einzige, der das Konzept des Albums konkret aufgreift. (»Sensibelchen – nennen sie mich / Sensibelchen – und sie lachen über mich / Sensibelchen – warum verstehen sie mich nicht.«)

Am Ende definiert sich das Alleinstellungsmerkmal dieser Platte also weniger über den Inhalt der einzelnen Lieder, dafür aber umso mehr über deren musikalische Umsetzung und damit über die Atmosphäre, die sie im Zusammenwirken erzeugen. Rein kompositorisch sind die Songs einfach strukturiert. Auch in ihrer Instrumentierung kommen sie ziemlich unaufgeregt daher. Die klangliche Anmutung des Albums insgesamt ist eher verträumt als verspielt. Auf diesem zarten musikalischen Fundament schwebt die sanfte, zurückhaltende, vor allem aber sehr präzise Stimme von Jaël. Diese Zutaten kommen dem Anliegen der Produktion sehr zugute, schließlich adressiert sie in erster Linie die stilleren Gemüter. Die Platte löst also durchaus ein, was sie verspricht. Dem im Pressetext bemühten Vergleich zu Beth Gibbons und Portishead hält sie aber keinesfalls Stand. Denn stilistisch steht das Album dem Schlager deutlich näher als dem melancholisch-dramatischen Sound dieser Ausnahme-Band.

Fazit: „Sensibelchen“ ist nicht ganz so innovativ geraten, wie es uns die Promo-Abteilung der Plattenfirma Universal glauben machen möchte. Ja, die Songs sind allesamt verträumt, ruhig und in gewisser Weise tiefgründig. Solche Zuschreibungen sind für Kinderlieder jedoch keineswegs untypisch. Mit Markus Reyhani, Flünk,Griffelknopf oder Toni Geiling seien hier nur vier empfehlenswerte Kindermusik-Acts benannt, die mit vielen ihrer Lieder in ähnlichen Gewässern unterwegs sind. Bemerkenswert ist aber die Konsequenz der konzeptionellen Umsetzung des Albums. Glaubwürdig vermittelt Jaël den Anspruch, insbesondere die Kinder ansprechen zu wollen, „die sich nicht lautstark in die Mitte des Geschehens werfen, sondern die gern aus einer sicheren Position heraus am sozialen Leben teilhaben“. Sie tut das mit der gebotenen Ernsthaftigkeit, mit musikalischem Können und nicht zuletzt natürlich mit viel Sensibilität. Kindermusikproduktionen mit vergleichbarer Grundstimmung beschränken sich meist auf die Kategorie Schlaflied. Im Vergleich dazu hat „Sensibelchen“ durchaus Erfrischendes anzubieten – und zwar für die sensiblen Gemüter, wie auch für die, die ihre sensible Seite noch entdecken möchten.


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Erschienen bei


Universal Music Family Entertainment

Veröffentlicht


2023

Bewertung der Redaktion: 3/5


Künstler*in



Pressefoto Jaël

Jaël

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